Stein I - III · 2024 · Ausstellung più lento · GALERIE PAUL SCHERZER · Fotos: Niklas Stålhammar
PIÙ LENTO
Das Verstreichen von Zeit lässt sich in zwei Bereiche teilen: die gemessene und die erlebte Zeit. Inwieweit diese miteinander interagieren, zeigt sich auf unterschiedliche Weise in den Arbeiten von Sofia Mayer und Leona Blum. Bei der Untersuchung von Zeit bedienen sich die beiden Künstlerinnen auf ganz eigene Weise ihrer trägen, oft als negativ verstandenen Form: der Langsamkeit.
Ob wir etwas als schnell oder langsam wahrnehmen, hängt von unserem individuellen Zeitempfinden ab. Wir kennen die Ruhelosigkeit, in der wir der rasenden Zeit hinterher eilen, genauso wie die Selbstvergessenheit, in der wir ein Gefühl von Zeitlosigkeit verspüren können.
In ihren Installationen begibt sich Leona Blum auf die Spurensuche nach den Unterschieden zwischen gemessener und erlebter Geschwindigkeit. Den Rhythmus der Zeit übersetzt sie in die repetitive Form des Netzes. Es wächst aus einem Faden, einer fortlaufenden Linie, wie das Kontinuum der linearen Zeit. Seine Knoten stehen in ihrer Aneinanderreihung für die Abfolge von Erinnerungen. Die Zwischenräume als immanenter Bestandteil des Netzes werden zum Synonym des Vergessens. In Arbeitsprozessen, die sich über Monate erstrecken, entstehen handgeknüpfte Objekte. Die Langsamkeit dieser Methode wird noch ad absurdum geführt, indem die Künstlerin auf Kunststoffgarn als Material zurückgreift, das sie aus der Dekonstruktion maschinell gefertigter Netze gewinnt. Masche für Masche rekonstruiert sie neue Gewebe mit leisen Imperfektionen. In ihrer Performance fängt sie in dieser Weise den Fluss der Zeit ein. Über die Dauer der Ausstellung entsteht ein Netz in der Galerie und skizziert so ein Bild der Langsamkeit. Die vorbereiteten Garnspulen leeren sich und werden zu neuen Maschen, zur Archivierunges Vergangenen.
In ihren Skulpturen aus Stein spürt Sofia Mayer der Lebendigkeit von Körpern und ihrer Wahrnehmung von
Raum nach. Aus der Beschäftigung mit der Geschichte des Materials, von seiner Entstehung bis zum Abbau
im Steinbruch, folgt die Entscheidung zur behutsamen Annäherung. In rein manueller Bearbeitung schält
die Künstlerin den Stein Schicht um Schicht bis zur endgültigen, organischen Form. Das Mittel der Langsamkeit ist für sie dabei Voraussetzung. Durch diesen Vorgang, wie auch durch längere Pausen zwischen den Arbeitsperioden, werden die vergangene Zeit und die Geschwindigkeit der Handlung Teil des Objekts. Zeitversetzt begonnen treffen die über Jahre hinweg bearbeiteten Werke während più lento erstmals synchron zusammen. Beim Besuch der Ausstellung können alle drei Steine mit den Händen berührt und ihre Formen haptisch
erfahren werden.
Das musikalische Zeitmaß „più lento“ fordert Interpret:innen dazu auf, eine entsprechend markierte Stelle im Musikstück langsamer zu spielen, als die vorhergehende Passage. In der gleichnamigen Ausstellung finden langsam entstandene Arbeiten zusammen. Gemeinsam erzeugen sie einen Ort, der als Ruhepol im Kontrast zum Lauten, Bunten und Umtriebigen des Alltags steht. Die Künstlerinnen laden ein zu verweilen und den eigenen Blick auf die Langsamkeit zu erweitern.